Ludmillenhof Sögel seitlich 

SAMTGEMEINDE SÖGEL

Gedenken zur Reichspogromnacht 

Rede des Bürgermeisters Johannes Völker: „Liebe Schülerinnen und Schüler, Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, im Namen der Verwaltung und des Rates der Gemeinde Sögel begrüße ich sie recht herzlich, hier in der Aula zur diesjährigen Gedenkveranstaltung zur Reichsprogromnacht, die gestern vor 85 Jahren einen tief schwarzen Fleck in unserer Geschichte hinterlassen hat.

Ich danke allen Schülerinnen und Schülern, der Schule am Schloss und des Hümmling Gymnasiums, in diesem Jahr besonders dem Jahrgang 10, für die jährliche Erinnerung an diesen finsteren Tag, denn nur durch die Präsenz der Erinnerungen bleiben wir wachsam und kritisch gegenüber Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Radikalismus in jeglicher Art.

Gerade für Sie, die sie bald aus der Schule kommen und eine hoffentlich friedliche und glückliche Zukunft vor sich haben, ist es wichtig solche Informationen, die sie bei der Vorbereitung einer solchen Veranstaltung sammeln, für ihr späteres handeln und denken einbeziehen, damit sie wachsam bleiben und ihre Zukunft auch wirklich friedlich und tolerant bleibt.

Wie wichtig Wachsamkeit vor beginnender Ausgrenzung ist, dafür gibt es in diesen Tagen wieder viele Beispiele. Auch um sich dem aufkeimenden Antisemitismus rechtzeitig entgegenzustellen, gibt es in Sögel zur Zeit ein aktuelles Projekt.

Auf Initiative vom Forum Sögel e.V. und mit tatkräftiger Unterstützung der Gemeinde, der Schulen in Sögel, Lathen und Werlte sowie vieler anderer Partner, entsteht aktuell zum Thema "Jüdisches Leben in Sögel und der Region", am zweiten Marktplatz ein weiterer, ein besonderer Gedenk- und Lernort. Besonders und neu deshalb, weil In Verbindung mit diesem Ort ein zugehöriger Internetauftritt und eine vertiefende Dokumentation die Möglichkeit schaffen soll, die Erinnerung und Wachsamkeit immer wieder bewusst zu machen. Dafür allen Beteiligen meinen herzlichen Dank und Anerkennung.

Nun wünsche ich allen Beteiligten einen guten Verlauf der Veranstaltung.“ 

Und hier die Worte der Schülerinnen und Schüler: 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Frau Hilgefort, sehr geehrte Lehrkräfte, sehr geehrte Mitschülerinnen und Mitschüler, liebe Schülerinnen und Schüler der Oberschule am Schloss, verehrte Anwesende! 

Wie Sie alle wissen, kommen wir heute nicht aus einem freudigen Anlass zusammen, sondern um der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen zu gedenken. 

In Sögel erinnern seit 2011 Stolpersteine an die Menschen, die hier in unserer Mitte lebten, bis sie ausgegrenzt, deportiert und vernichtet wurden. Wir haben sie gerade in der Präsentation von Lina und Janne gesehen. In Vorbereitung zu dieser Gedenkveranstaltung haben wir gemeinsam alle bisher verlegten Stolpersteine in Sögel aufgesucht. Sie alle zu finden war teilweise gar nicht so leicht, denn sie laufen mit der Zeit dunkel an und gleichen damit farblich dem umliegenden Pflaster. Deshalb haben wir sie etwas aufpoliert und mit Blumen geschmückt. Wir hoffen, dass die Erinnerung an die Toten und Vermissten nicht genauso verblasst wie der Glanz ihrer Stolpersteine. Die Versuchung ist groß, im übertragenden und wörtlichen Sinne einfach „über sie hinwegzugehen“. 

Heute vor genau 85 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, erreichte die antisemitische Politik der NSDAP-Regierung mit der Reichspogromnacht einen ersten traurigen Tiefpunkt. Im ganzen Deutschen Reich – auch hier in Sögel – wurden jüdische Gotteshäuser angezündet. Geschäfte in jüdischem Besitz wurden zerstört und vielfach ausgeplündert. Willkürlich wurden Menschen, die in den Augen der Nationalsozialisten als Juden galten, verhaftet. 

Die Ursachen liegen in der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten, die seit 1933 zunächst noch etwas vorsichtig, dann aber immer offener und intensiver Menschen jüdischen Glaubens aus einer Mehrheitsgesellschaft von ideologisch Erwünschten ausgrenzte, die die Nationalsozialisten „Volksgemeinschaft“ nannten. Malte und Lutz haben zusammengetragen, wie das Leben der Menschen jüdischer Abstammung oder jüdischen Glaubens seit 1933 immer weiter eingeengt wurde. 

Der Anlass der Reichspogromnacht war ein Mordanschlag auf einen deutschen Botschafter in Paris, Ernst von Rath. Der Attentäter war Herschel Grünspan, ein Jude aus Hannover, der sich damals in Frankreich aufhielt. Sarah, Anna und Toske aus unserer Klasse sind ebenfalls gerade in Frankreich, nämlich zum Schüleraustausch. Sie haben nähere Recherchen zum Attentäter angestellt. 

Das Attentat im November 1938 bot der nationalsozialistischen Propaganda also bloß einen willkommenen Vor-Wand, um die bereits seit Längerem immer intensivere Verfolgung und Ent-Rechtung der jüdischen Bevölkerung auf eine neue Eskalations-Stufe zu stellen. Leider war es nicht die letzte Stufe, sondern nur eine „General-Probe“. Denn wenige Jahre später, zwischen 1941 und 1945, brach sich der wahnhafte, rassistische Judenhass endgültig Bahn und gipfelte in der historisch beispiellosen Entscheidung zur sogenannten „End-Lösung der Judenfrage“. Mit anderen Worten: Jeder einzelne Jude in Europa sollte ermordet werden. Die Shoah. Warum unternahm fast niemand etwas dagegen? Wir haben die Rekonstruktion der historischen Ereignisse in Sögel untersucht und haben versucht, verschiedene Perspektiven aufzuzeigen.

Uns ist klar geworden: Auch wenn in einigen Jahren alle Stolpersteine verlegt sein werden, werden sie nicht an alle Menschen erinnern, die wir als Opfer der Shoah betrachten würden. Etliche jüdische Mitbürger haben es geschafft, vor der massenhaften Vernichtung – teilweise unter erbärmlichen Umständen – zu fliehen, auszuwandern und ihr bloßes Leben zu retten. Ihre Angehörigen mussten sie im Ungewissen zurücklassen, und oftmals haben sie nach 1945 erfahren müssen, dass sie die einzigen Überlebenden ihrer Familie waren. Nur Wenigen gelang es, in Sögel, inmitten von Tätern, wieder ihren Lebens-Mittelpunkt zu finden. 

Dies alles lässt sich eigentlich in jedem Geschichtsbuch nachlesen. Und auch sonst widmet die Erinnerungskultur in unserem Land dem Nationalsozialismus und der Shoah viel Aufmerksamkeit. Mahnmale, regelmäßige Dokumentationen im Fernsehen und im Internet, Schul-Bibliotheken oder politische Bekundungen sind nicht zu übersehen. Und der Geschichts-Unterricht tut alles, um das Thema im Bewusstsein von uns Jugendlichen zu halten. Warum also dann noch diese Gedenkveranstaltung? 

Wir wollen ehrlich mit Ihnen sein. Als unser Geschichtslehrer, Herr Strotbek, uns fragte, ob wir diese Gedenkveranstaltung gestalten wollen, waren viele von uns nicht gerade begeistert. Da war zunächst die Frage: Warum ausgerechnet ich? Warum ausgerechnet wir? Dazu trat die Unsicherheit: Können wir das überhaupt?

Wir haben uns in der Klasse offen darüber ausgetauscht. Für viele von uns erschien das Projekt zunächst nervig und lästig. Wir fragten uns, ob unsere Lehrer von uns wünschten, dass wir eine persönliche Betroffenheit zeigen, die so aussehen würde, als wäre sie nicht ehrlich gemeint. Dieses Gefühl war irritierend, denn wir waren uns ja alle einig darüber, dass wir die Ideologie und Politik des National-Sozialismus ablehnten. Und erst nach und nach wurde uns klar, woher dieses Gefühl kommt.

Blicken wir Schüler aus dem Jahr 2023 in die Vergangenheit, so sehen wir unsere Rolle oft als die eines unbeteiligten Zuschauers. Oft kommt es uns vor, als würden wir ein Video sehen, das man nach dem Ansehen schnell wegklicken und vergessen könnte. Sicherlich sind die Zusammenhänge irgendwie interessant und die Verbrechen wirken in sich erschütternd – aber bei allem Erschrecken wirkt das historische Geschehen für uns künstlich und fern, vergangene Ereignisse, reines Faktenwissen aus dem Geschichtsbuch, das man für Arbeiten auswendig lernt, aber kaum in der jetzigen Welt wiederfindet. Und das liegt, wie wir glauben, daran, dass unsere heutige Welt so ganz anders scheint.

Die damalige Intoleranz der Deutschen gegenüber allen möglichen Minderheiten können wir heute eigentlich kaum noch nachvollziehen, und zwar gerade weil wir versuchen, weltoffenen durchs Leben zu gehen. Und wir nehmen mit Befremden zur Kenntnis, wie gewaltbereit die damalige Gesellschaft war, und wie selbstverständlich Gewalt als Lösung akzeptiert wurde. Und all dies verführt dazu, dass man angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen leicht versucht ist zu sagen: „Ja ja, schon grausam war das alles, aber heutzutage haben wir keinen wirklichen individuellen Bezug mehr dazu.“ In unserer Klasse lernen Schülerinnen und Schüler gemeinsam, die unterschiedliche nationale Herkünfte und kulturelle Hintergründe haben. Drei Mitschülerinnen befinden sich, wie wir gerade gesehen haben, im Schüleraustausch in Frankreich, um die andere Kultur aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Rassistische und antisemitische Vorurteile sind doch scheinbar wirklich auf dem Abstellgleis der Geschichte gelandet.

Aber stimmt das wirklich?

Je näher man unsere Gesellschaft betrachtet, desto entschiedener muss man diese Frage – leider – mit „nein“ beantworten. Mitschülerinnen und Mitschüler dieser Schule hier haben sich vor einigen Jahren zum Spaß gegenseitig rechtsextreme Nachrichten zugeschickt. Politische Parteien versuchen erneut, die Bevölkerung in „echte“ und „nicht echte“ Deutsche einzuteilen. Statt „Rasse“ sagen Rassisten nun „Identität“. Vorurteile gegen nationale und religiöse Gruppen scheinen allgemein verbreitet zu sein – nicht nur, aber eben auch gegenüber Juden. Fußballfans von Energie Cottbus waren sich im Jahre 2005 nicht zu schade dafür, den gegnerischen Verein als „Judenverein“ zu verunglimpfen. Nationalsozialisten bekämpfen aus dem terroristischen Untergrund heraus den Rechtsstaat und gehen dabei über Leichen. Antisemiten verüben Attentate gegen Politiker und Personen des zivilen Lebens. Synagogen werden bedroht. Reichsbürger und zweifelhafte Journalisten versteifen sich auf die Falschbehauptung, Hitlers Politik sei von Juden selbst finanziert worden. Und einige Politiker relativieren den gesamten Nationalsozialismus und die Shoah als einen „Vogelschiss“. 

Und da ist es dann plötzlich: Dieses mulmige Gefühl, dass all das wiederkehren kann. Dieses mulmige Gefühl, dass 1933 schon einmal Demokratie und ein Rechtsstaat leichtfertig geopfert wurden, weil niemand entschieden genug für sie eintrat. Es liegt an uns. Wir glauben, dass es unsere gemeinsame Verantwortung ist, antisemitische und rechtsextreme Vernebelungs-Versuche und Verdrehungen klar zu benennen. Zivilcourage zu zeigen. Antisemitismus bleibt eine Herausforderung für unsere Gesellschaft. Voraussichtlich noch lange. Zum Abschied hören wir noch einmal Musik von Frau Mühlenberg und Herrn Velden. Wir bedanken uns für Ihre und Eure Teilnahme. Auf Wiedersehen und: Shalom!